Wir beobachten in unserer Beratungsstelle seit Jahren ein Phänomen mit Sorge: Soziale Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen werden von Eltern und Lehrern als (zwangsläufige) Nebenerscheinungen von besonderer Begabung "umgedeutet". Es gibt aber keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass hohe Begabung (immer) mit Verhaltensproblemen einhergehen.
Auf diese Tatsache weist der Schulpsychologe Dr. Karl Landscheidt hin:
Rebellion, Kreativität, Intelligenz und auffälliges Sozialverhalten.
Unglücklicherweise halten einige Eltern im Vorschulalter, aber auch noch während der Grundschulzeit das auffällige Sozialverhalten ihres Kindes für einen Ausdruck von besonderer Charakterstärke und beobachten Streitbarkeit und Widerstand ihres Kindes mit einem weinenden, aber auch mit einem lachenden Auge. Manche sind versucht, ihr Kind in romantischer Weise als einen sozialen Rebellen zu sehen. Aber der zielgerichtete Widerstand gegenüber Autoritäten, der den effektiven Rebellen charakterisiert, ist nicht die Sache dieser Kinder. Stattdessen widersetzen sie sich allen Autoritätsfiguren und Regeln, die sie einschränken. Sie sind, wie Patterson (Patterson et al., 1992, S. 23) bemerkt, „nicht einmal gut im Stehlen oder Kämpfen. Diese Jungen sind Verlierer. Es ist die Kombination von hohen Raten antisozialen Verhaltens und Inkompetenz, die sie einem hohen Entwicklungsrisiko aussetzt.“
Gelegentlich halten Eltern Aggressivität und oppositionelles Verhalten ihres Kindes für einen Ausdruck besonderer Kreativität. Mit diesem äußerst schillernden Begriff verbinden viele Menschen die Vorstellung plötzlicher Eingebung und müheloser Produktion von Meisterwerken. Kreative Leistungen, in welchem Bereich auch immer sie erbracht werden (Kunst, Literatur, Sport, Politik, Wissenschaft) sind aber immer mit einem extremen Maß an Disziplin verbunden, d.h., sie verlangen die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub. Anstrengungsbereitschaft, Durchhaltevermögen, über die Kinder mit antisozialem Verhalten gerade nicht verfügen.
Sehr beliebt ist seit einigen Jahren auch unter Fachleuten die Auffassung, antisoziale Verhaltensweisen seien ein Zeichen für Hochbegabung. Diese Sichtweise hat nicht nur für viele Eltern, sondern auch für Journalisten, Lehrer und Kultusbeamte eine hohe Attraktivität. Sie folgt meist der genauso trivialen wie bizarren Überlegung, hochbegabte Kinder langweilten sich im Unterricht, weil sie so schlau sind, und aus diesem Grund würden sie auffällig. Insgesamt ist die Befundlage zu dieser Frage sehr eindeutig. Es gibt keine zuverlässigen wissenschaftlichen Belege für die Annahme, das hohe Begabung mit sozialer Auffälligkeit oder emotionalen Problemen verknüpft ist (Freeman, 1998). Maguin und Loeber (1996) fanden in einer Metaanalyse einschlägiger Forschungsarbeiten, dass soziale Auffälligkeit, Delinquenz etc. mit niedriger Intelligenz zusammenhängt (was natürlich nicht im Sinne einer Ursache-Wirkungs-Beziehung interpretiert werden darf). Freeman (1998) berichtet einige Studien, die übereinstimmend zu dem Ergebnis kommen, dass besonders begabte Kinder oder Jugendliche weniger soziale emotionale Auffälligkeiten aufweisen als unausgelesene Referenzgruppen, dass sie im Gegenteil emotional stabiler, produktiver, leistungsmotivierter und weniger ängstlich sind. Auch der Marburger Psychologe Rost ist in verschiedenen Studien (1993; Rost & Czeschlik, 1990) dieser Frage nachgegangen. Er findet keine Belege dafür, dass hochbegabte Grundschüler in größerem Ausmaß Auffälligkeiten aufweisen als andere Schüler.
In einer Studie von Freeman (1991) berichten 82 % der Eltern, die Hilfe bei der National Association for Gifted Children (UK) suchten, entweder über vorhandene emotionale Probleme oder sie erwarteten solche Probleme. Typischerweise zeigten die Kinder hyperaktives Verhalten, Ungeschicklichkeit, Wutanfälle und extrem ansprüchliches Verhalten. Die Kinder schliefen schlecht und hatten gewöhnlich wenig gleichaltrige Freunde. Kinder einer Vergleichsgruppe, die ebenso hochbegabt waren, zeigten allerdings kein problematisches Verhalten und wurden wesentlich seltener in stereotyper Weise als hochbegabt bezeichnet. Ihre Eltern traten keinem Verein bei. Dies ist eines von vielen Beispielen, die belegen, dass Studien über die Mitglieder einschlägiger Vereinigungen nicht zu repräsentativen Ergebnissen führen. In der Regel ist es nämlich so, dass sich Eltern hilfesuchend an Beratungseinrichtungen oder Vereine wenden, weil sie Probleme mit dem Verhalten des Kindes haben, und nicht, weil das Kind so intelligent ist. Eltern mit einem emotional stabilen, produktiven, leistungsmotivierten und wenig ängstlichen Kind benötigen keine Selbsthilfegruppe.
Karl Landscheidt: Wenn Schüler streiten und provozieren Richtig intervenieren bei antisozialem Verhalten (c) 2007, Ernst Reinhardt Verlag München/Basel, S. 81-83 Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Ernst Reinhardt Verlags